Hier kommt eine Spiegelreflexkamera, die beim Auslösen klingt, als schlüge eine Autotür zu, deren sog. „Bereitschaftstasche“ die Dimensionen eines Schminkkoffers hat und die den Fotografen mit ihren gut 2 Kilo geradezu niederdrückt: die wuchtige russische Mittelformatkamera „Kiev 60“ (bzw. „Kiev 6S“).
Zunächst der Steckbrief:
• Baujahr: 1984-1992 („Kiev 60“) bzw. 1980-1986 („Kiev 6S“, TTL-Variante); heute ‚getuned‘ als „Arax-60 MLU“ erhältlich • Hersteller: Arsenal, Kiev (ehem. UdSSR, 2010 geschlossen) • Format: Mittelformat (6x6 cm, 12 Aufnahmen auf Film 120) • Objektivanschluss: P6-Bajonett (wie „Pentacon six“) • Objektiv: div. Wechselobjektive, russische Standardobjektive „Volna“, „Vega“ oder „Arsat“ (f 2,8 / 80 mm) • Blenden: objektivabhängig, i.d.R. 2,8 / 3,5 bis 22 • Verschluss: horizontal ablaufender Tuch-Schlitzverschluss • Belichtungszeiten: B, 1/2 bis 1/1000 Sek. • Fokussierung: manuell, objektivabhängig • Blitz: Kontaktnippel für Elektronenblitz (Blitzschuh kann angeschraubt werden) • Belichtungsmesser: ungekuppelter CdS-Belichtungsmesser im TTL-Prismenaufsatz • Filmzählwerk: Fenster neben dem Schnellspannhebel (zeigt bei Filmende „K“) • Sucher: TTL-Prismensucher (mit Mikroprismenring und Schnittbildentfernungsmesser), gegen Schachtsucher oder einfachen Prismensucher austauschbar • Filmtransport: Schnelltransporthebel • Auslöser: schräg vorn rechts (wie bei den deutschen Vorbildern „Praktisix“ und „Pentacon six“), bei der „Kiev 6S“ links • Selbstauslöser: nein • Filmtyp-Merkscheibe: ja (ISO-Wert-Einstellung auf dem Schnellspannhebel) • Batterie (im TTL-Prismenaufsatz): 1x 4,5 V oder 3x PX675 (nicht mehr erhältlich) • Besonderheiten: kein Rückschwingspiegel, Hebel zum Abblenden des Objektivs (zur Tiefenschärfekontrolle) • Zubehör: Bereitschaftstasche, Zubehörschuh, div. Filter, Zwischenringe, Gegenlichtblende, Augenmuschel (für Sucherokular), div. deutsche und russische Wechselobjektive der „Praktisix“ / „Pentacon six“-Familie, 3 Sucheroptionen (TTL- oder einfacher Prismenaufsatz, Lichtschacht)
Die schwere Kamera ist sicher nichts für entspannte Familienspaziergänge, denn dafür ist sie zu klobig . Aber sie ist ein großartiges Instrument für die bewusste, konzentrierte Mittelformatfotografie, zumal alle Zeiss-Objektive, z.B. das hochwertige „Biometar“ oder „Sonnar“, passen, abgesehen von den verschiedenen guten russischen Weitwinkel- und Teleobjektiven („Mir“, „Vega“). Eine vollständige Auflistung aller Objektive findet sich in dem interessanten Buch „Mittelformat ‚Ost‘“ von Stefan Scheibel (Stuttgart 1994). Er bezeichnet die „Kiev 60“ mit Blick auf ihr Vorbild, die Dresdner „Pentacon six“, als „armen Vetter aus Russland“ — zu Unrecht, wie ich finde. Denn die Konzentration auf die Kernfunktionen der Kamera erhöht die Praxistauglichkeit und reduziert die Gefahr technischer Komplikationen.
Die TTL-Prismenaufsätze zwischen den beiden Versionen unterscheiden sich: Bei der „Kiev 60“ wird die Messung mittels eines Schiebers gestartet. Im Sucher erscheinen bei korrekter Belichtung zwei rote Punkte, wenn nur der linke oder rechte zu sehen ist, bedeutet das Unter- bzw. Überbelichtung. Auf dem TTL-Aufsatz müssen die ISO-Zahl des Films und die größte Blende (z.B. 2,8) des gerade verwendeten Objektivs eingestellt werden. Am Rad stellt man so lange Blende/Zeit-Kombinationen ein, bis beide Dioden leuchten, dann überträgt man die Werte auf die Kamera. Bei der „Kiev 6S“ hingegen startet man die Messung durch Einstellen eines Drehknopfes auf kyrillisch „On“. Er erlaubt auch den Batterie-Check (Leuchtdiode). Die Batteriefächer sind ebenfalls etwas unterschiedlich konstruiert: Bei der „Kiev 60“ lassen sich problemlos drei LR44-Batterien verwenden. Bei der „Kiev 6S“ hingegen ist das Fach weiter, hier braucht man einen Adapter (Metallzylinder). Bei hellem Licht sind die roten Leuchtdioden des Belichtungsmessers oft schlecht zu erkennen, dann empfiehlt sich eine Augenmuschel.
Der Transporthebel sollte beim Spannen immer langsam zurückgeführt werden, man zerschlägt sich sonst mit der Zeit Zahnräder und Federn!
In vielen Publikationen ist vom Problem sich überlappender Aufnahmen durch unpräzisen Filmtransport die Rede. Bei meinen Exemplaren habe ich das allerdings noch nie erlebt. Wie gesagt: In dem monumentalen Apparat arbeitet eine kraftvolle Mechanik — man sollte die alte Dame daher immer mit Gefühl behandeln.